Keine Angst. Kein Hass.
No fear. No hatred.
Lieber Christian Streich, [Trainer des SC Freiburg]
vor den Landtagswahlen haben Sie gesagt: „Jetzt geht es darum, dass man sich den Menschen öffnet, dass man sie empfängt, dass man Ängste abbaut. Es geht oft um die Angst vor dem Anderen und die Angst vor dem Fremden. Das kann man bei sich selbst beobachten. Es geht darum, andere Denkweisen kennenzulernen und auch darum, auf einen gewissen Wohlstand für eine Zeit zwar nicht zu verzichten, ihn aber umzuverteilen. Von Menschen, die mehr haben zu Menschen, die weniger haben“.
Auf der Pressekonferenz vor dem Frankfurt-Spiel betonten Sie, „dass wir möglichst viele Stimmen abgeben für demokratische Parteien und wir gegen diese unsägliche fremdenfeindliche und gästefeindliche Politik von einigen Parteien Stimmen sammeln können“.
Für dieses Engagement für eine offene, gerechte Gesellschaft danken wir Ihnen, mussten aber erleben, dass es alleine nicht ausreicht, um eine demokratische, offene, sozialstaatlich verfasste Bundesrepublik zu verteidigen.
Was tun?
1. Es ist höchste Zeit, dass wir in der Entwicklung nach rechts, die die Bundesrepublik seit einiger Zeit heimsucht, kein vorübergehendes Phänomen sehen, sondern eine ernsthafte Bedrohung unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Bei allen Defiziten in der sozialen Frage – ein Zusammenleben ohne Hass in diesem Land war möglich. Diese Lebensqualität ist bedroht und es wird nicht mehr ausreichen, ab und an oder auch öfters gegen Pegida-Aufmärsche zu demonstrieren.
Wir brauchen eine breite, in der Gesellschaft verankerte, dem aufgeklärten Humanismus verpflichtete Bewegung, die ein gemeinsames Ziel hat: eine Gesellschaft, die nicht ausgrenzt, sondern Solidarität, Empathie lebt, die unsere demokratischen, gewaltfreien Grundsätze verteidigt und fördert, die es ermöglicht, dass niemand Angst vor der Zukunft haben muss, Angst vor dem alltäglichen materiellen Überleben.
Eine solche Bewegung stellt keine Parteiprogrammatik in den Vordergrund, sie schließt Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ebenso ein wie Gewerkschaften, Berufsverbände, außerparlamentarische Gruppierungen, die Kassiererin im Supermarkt und den Müllwerker. Sie schließt Mitglieder aller demokratischen Parteien ein – auch in der CSU gibt es Menschen, die sich der liberalitas Bavariae in ihrem besten Sinne verpflichtet sehen. Sie erschöpft sich nicht in Aufrufen, sondern zeigt sich kontinuierlich, öffentlich, unüberseh- und -hörbar auf den Straßen, in den Medien, in Schulen, Hörsälen.
Lasst uns überlegen, wie eine solche Bewegung entstehen kann.
2. Woraus resultiert dieser Hass auf alles Fremde, Unbekannte, der sich den Wahlergebnissen der letzten Landtagswahlen niedergeschlagen hat? Wie kann es sein, dass LINKE-Wähler zur AfD gewandert sind? Sind AfD-Wähler/innen nun alle Neonazis, Altfaschisten, Rassisten? Die gíbt es sicherlich nicht zu knapp, die gibt es vor allem in den Führungsetagen dieser Partei, in der militanten Mitgliederschaft, in den Redaktionen der der Partei zuarbeitenden Medien, in den Reihen der neuen Mandatsträger/innen.
Aus der Online-Ausgabe der SZ vom 13.03.2016:
Heute, 19:43 Uhr Hannah Beitzer, @Magdeburg
„Ich bin eher unpolitisch“
„Was ist denn hier?“, fragt die Taxifahrerin, die vor der Wahlparty der AfD wartet. „Ach, die AfD…“ Sie schweigt eine Weile, denkt nach, dann sagt sie: „Also ganz ehrlich: Ich hab die auch gewählt.“ Früher habe sie meistens gar nicht gewählt, manchmal auch die Linkspartei. Und nun AfD. Warum? „Na, wegen die ganzen Flüchtlinge!“ Mit den restlichen Positionen habe sie sich nicht beschäftigen können, keine Zeit. „Aber ich hoffe, die tun was gehen Altersarmut. Und ich finde, die sollen Hartz IV einschränken. Arbeit muss sich wieder lohnen. Aber eigentlich“, schränkt die Fahrerin ein, „kenne ich mich damit gar nicht aus. Ich bin eher unpolitisch.“
Ist nun diese Taxifahrerin rassistisch, neonazistisch? Oder ist sie getrieben von Existenzängsten, Ohnmachtsgefühlen? Warum sieht sie nicht mehr in der LINKEN ihre politische Ansprechpartnerin sondern in der AfD? Auf diese Fragen kann es im Moment auch nur Fragen geben, die aber in Antworten münden können und müssen.
Haben wir zu häufig Moralpredigten gehalten in der Flüchtlingsfrage, hauptsächlich gerichtet an diejenigen und wahrgenommen von denjenigen, die eh schon auf der „richtigen“ Seite waren? Haben wir zu wenig Rücksicht genommen auf die Befindlichkeiten derjenigen Menschen, für die es warum auch immer leichter war, die Schuld für ihre Situation auf die noch Schwächeren abzuladen, anstatt sich zu fragen, wer und was denn die Ursache für ihre bedrohliche soziale, ökonomische und auch kulturelle Lage ist, für die groteske Ungleichverteilung der Güter in diesem Land.
Wir haben es versäumt vor lauter moralischer Empörtheit über AfD und Pegida der Taxifahrerin zu vermitteln: „Die Bekämpfung von Altersarmut, von Hartz IV, von jeglicher sozialen Ungerechtigkeit ist das Anliegen unserer Partei. Diese Themen sind unsere Themen und zwar nicht erst seit gestern. Wir tun alles in unserer Macht stehende, damit Sie diese Existenzängste nicht haben müssen. “
Und wir haben versäumt, klarzustellen, für welche familien-, frauen-, rechts- und umweltpolitischen Positionen die AfD steht.
Die widerwärtigste Seite der AfD zeigt sich in ihrem kaum verbrämten Rassismus, ihrem xenophoben Geifern um die „kulturelle Identität“. Was aber unsere Taxifahrerin auch wissen sollte, sind diese Programmpunkte:
- Schon ab 12 Jahren sollen Kinder zu Gefängnisstrafen verurteilt werden können.
- Polizei und Justiz erhalten mehr „Eingriffsrechte“, Geheimdienste werden ausgebaut.
- Keine Verschärfung des Waffenrechts.
- Wirtschaft und Unternehmen sollen sich frei, ohne staatliche Eingriffe entfalten können, Monopolbildungen nicht behindert werden. Dass 1% der Weltbevölkerung die Hälfte aller Vermögen besitzt – kein Problem.
- Erbschaftssteuer abschaffen.
- Arbeitslosengeld wird privatisiert, auch Arbeitsunfälle werden bei Privaten versichert – alles ist freiwillig.
- Wegfall der Arbeitgeberbeiträge im Rentenalter.
- Die Lebensarbeitszeit wird verlängert.
- Leitbild neben dem christlichen Abendland ist die traditionelle Familie, staatliche Kindergärten braucht es nicht, das machen die Mütter.
- Abtreibungen werden erschwert, die Folgen so dargestellt, dass Frauen, davon Abstand nehmen.
- Quotenregelungen zugunsten von Frauen werden abgeschafft.
- Klimawandel findet nicht statt. Kohlendioxid ist gut, je mehr desto besser.
- Verlängerung der Atomkraftwerkslaufzeiten.
- „Freie Fahrt für freie Bürger“, Ablehnung von Tempolimits.
- Die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten werden privatisiert.
Ein Blick in den Programmentwurf 2016 ist ratsam, lehrt aber das Grauen. Dieses Programm ist eine Roadmap in den reaktionären Polizeistaat des 19. Jahrhunderts gepaart mit einem Neoliberalismus à la enrichissez-vous. Es gilt, dem selbsternannten Advokaten des „kleinen Mannes“ und der „kleinen Frau“ seine Maske vom Gesicht zu reißen.
Wir wollen nichts dramatisieren, doch was Bertolt Brecht 1941 im Epilog zu seinem Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ schrieb, gilt heute immer noch und mehr denn je:
„Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Daß keiner uns zu früh da triumphiert –
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
Lasst uns diese Warnung ernst nehmen, bilden wir eine breite Front gegen Fremdenhass, Intoleranz, für soziale Gerechtigkeit. Und halten wir uns dabei weiter an Bertolt Brecht: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“
Keine Angst. Kein Hass.
No fear. No hatred.
Karl Ischinger
16.03.2016