Zum Prozess gegen Stadtrat Cetin Oraner und Azaad Bingöl:
Freisprüche! Königlich-bayerisches Amtsgericht – oder politischer Warnschuss?
Mit einem erfreulichen Paukenschlag endete am vierten Verhandlungstag am 26. April ein nervenzehrender Prozess gegen Stadtrat Cetin Oraner und den kurdischen Aktivisten Azaad Bingöl: Freispruch für beide in allen Punkten, die Prozesskosten trägt die Staatskasse! Ein zumindest merkwürdiges Konstrukt von Polizeibeamten des bayerischen USK (Unterstützungskommando) war zusammengebrochen, der Vorwurf der „Verherrlichung einer verbotenen Vereinigung“, hier der kurdischen Arbeiterpartei PKK, musste fallengelassen werden. Die Staatsanwaltschaft legte bis heute keine Berufung ein! [Wie das Amtsgericht mitteilte, hat nun die Staatsanwaltschaft doch gegen den Freispruch Berufung eingelegt. Wir sind aber zuversichtlich und wünschen es Cetin und Azaad Bingöl, dass das Gericht sich weiter an die Faktenlage hält und den Freispruch aufrecht erhalten wird. Die Homepage-Redaktion des Vorstands].
Was war geschehen? Ende September 2014 verstärkte der IS seine Angriffe auf syrische Dörfer, metzelte Menschen nieder, versklavte Frauen und Mädchen, es begann der Kampf um die Stadt Kobane. Damit drohte nicht nur irgendein Wüstenterritorium erobert zu werden, das demokratische Experiment „Rojava“ sollte im Granathagel untergehen. Hunderte von Münchnerinnen und Münchnern – überwiegend, aber nicht nur, aus der kurdischen Community – fanden sich zu einer Solidaritätsveranstaltung und Demo am Stachus ein – und das am letzten Wies’n-Sonntag. Letzteres zu erwähnen ist deshalb wichtig, weil es die Stimmung der eingesetzten USK-Beamten prägte: „wia ko ma so bläd sei, und am Wies’n-Sonntag a Demo macha“, so der Kommentar des Einsatzleiters! Mit viel Verzögerung konnten Versammlung und Demo ohne Zwischenfälle durchgeführt werden, zurück am Stachus war man dabei, sich zu verabschieden und sich auf den Heimweg zu machen, da wollte die Bayerische Polizei wohl ein Exempel statuieren: von den verschiedensten Teilnehmern und vor allem auch Teilnehmerinnen, auch Müttern mit ihren Kindern, wurden plötzlich „Personalienfestellungen vorgenommen“. Offizielle Begründung: Skandieren verbotener Texte (auf Türkisch oder kurdisch), Schwenken von Özalan-Bildern und ähnliches. Als ein junger Kurde nicht einsah, warum er sich ausweisen solle und daraufhin sehr unsanft „zu Boden gebracht“ (bestes Polizeideutsch) wurde, protestierten erregte Demo-Teilnehmer dagegen. Auch Stadtrat Cetin Oraner mischte sich ein, um die Situation nicht eskalieren zu lassen, mit den Worten: „Ich bin Stadtrat, lassen Sie doch den Jungen los…“ versuchte er, die auf dem Jungen knienden Beamten zur Vernunft zu bringen. Reaktion: es wurde eine Polizeikette gebildet, um die Aktion abzuschirmen. Einer der Beamten in der Kette machte einen Schritt auf Cetin zu, seine rechte Faust traf Cetin an der Oberlippe, danach folgte ein Bruststoß mit Links, Cetin ging nach hinten zu Boden. Genossen halfen ihm wieder auf, er wollte Richtung U-Bahn gehen, da wurde er von zwei Beamten verhaftet, in ein Polizeiauto „verbracht“, auf die Polizei-Inspektion 11 gefahren und dort für 1 ½ Stunden eingesperrt – wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“! Der Beamte, einen guten Kopf größer als Cetin und von entsprechender Statur, der Cetin niedergeschlagen hatte, war ihm noch bis ans Auto und dann wieder bis zur Zelle gefolgt und hatte immer wieder lautstark gerufen „Der hat mich geschlagen!“ Haltet den Dieb – assoziiert man spontan.
Über den Vorfall berichtete die TZ damals ganzseitig, es gab Fotos vom verletzten Cetin, ein Handgemenge per Video – das einen stehenden Cetin und einen sich bewegenden Polizisten zeigte. Belege für die USK-Darstellungen jedoch fanden sich nirgends. Ein Journalist, Zeuge der Szene, hatte sofort Anzeige gegen den USK- Beamten erstattet. Das führte zu „internen Ermittlungen“ durch das LKA, verschiedene USK-Beamte wurden vorgeladen, die Vernehmungsprotokolle entpuppten sich als (gedächtnis-)lückenhaft und widersprüchlich, ganze Textpassagen waren wortgleich („das muss ein Fehler des Schreibdienstes sein“, so der befragte LKA-Beamte!). Das Verfahren gegen den USK-Beamten wurde eingestellt, dafür erhob die Staatsanwaltschaft München I noch ihrerseits Anklage gegen Stadtrat Cetin Oraner und den damaligen Versammlungsleiter Azaad.
Die Anklageschrift liest sich wie das Drehbuch zu einer neuen Folge zum „Königlich-Bayerischen Amtsgericht“: die Schilderungen aus der Sicht des klagenden USK-Beamten wurden offensichtlich wörtlich übernommen, sie sind von kruder Zusammenhanglosigkeit und überhaupt nur erklärbar, wenn es gelingt, sich die Wirkung der Schwerkraft als völlig außer Kraft gesetzt vorzustellen und – natürlich, dem geneigten Asterix-Leser ist dies klar – muss Cetin vorher vom Druidentrank einen kräftigen Schluck genommen haben .
Allerdings ließ der zweite Teil der Anklage einem das Blut in den Adern gefrieren: Verstoß gegen das Vereinsverbot: bekanntlich gilt die Kurdische Arbeiterpartei in der Bundesrepublik als „terroristische Organisation“. Legal ist, gegen dieses Verbot zu sein, illegal sind alle Formen von „Verherrlichung“. Erinnert sei an das skurrile Verfahren gegen unsere Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke: sie protestierte auf einer Kundgebung gegen das PKK-Verbot, zeigte dabei die PKK-Fahne – und das reichte für eine hohe Geldbuße! Worin soll nun bei Cetin und Azaad diese „Verherrlichung“ bestanden haben? Azaad habe während der Demo aus dem Lautsprecherwagen skandiert „weg mit dem Verbot der PKK“ – was legal sei – die Menge aber habe geantwortet mit dem türkischen Ausdruck für „es lebe Özalan“ – was verboten sei! Cetin – er ist bekanntlich ein europaweit bekannter Sänger türkischer und kurdischer Lieder – wurde wiederum eine Fan-Seite im Netz vorgehalten, die ihn u.a. bei einem Auftritt – Ort unbekannt – zeigt, wo im Hintergrund PKK-Fahnen und Özalan-Bilder in der Menge geschwenkt werden.
Der Vorwurf gegen Azaad war so absurd, dass Rechtsanwalt Hartmut Wächtler nur sagen konnte, ein solches Konstrukt, dass nämlich jemand mit einem legalen Satz eine Menge zu einer verbotenen Aussage habe provozieren wollen, sei ihm in all den Jahren seiner Rechtsanwaltstätigkeit noch nicht untergekommen. Selbst der Staatsanwalt ließ diesen Vorwurf schleunigst fallen, auch Cetin konnte von niemandem die Verantwortung für eine Fan-Seite, die von jemand ganz anderes ins Netz gestellt wurde, angelastet werden. Doch an diesen Vorwürfen sieht man, wie es immer wieder im Justizapparat Kräfte zu geben scheint, die der Liebedienerei gegenüber dem türkischen Erdogan-Regime weiter Vorschub leisten wollen – und sei es in vorauseilendem Gehorsam! Angesichts des aktuellen Bürgerkriegs der Erdogan-Truppen gegen die kurdische Bevölkerung sind solche Vorstöße von makabrer Aktualität!
Die Polizei bot alles an Zeugen auf, was irgend in der Nähe des klagenden USK-Beamten war. Das Geflecht an Aussagen zeigte sich allerdings – vor allem in der Zusammenschau von Rechtsanwalt Marco Noly – von solch geradezu real-satirischer Kuriosität, dass es auch für den Staatsanwalt nicht als Stoff für sein Plädoyer taugte. So konnte sich der direkt neben dem Kläger in der Kette stehende Beamte nicht erinnern, wie es kam, dass sein Nachbar plötzlich einen Meter vor ihm stand, ein anderer Zeuge konnte sich an keinen „Befreiungsschlag“ (so die Darstellung des Klägers) durch seinen Kumpel entsinnen, wohl aber an einen Fußtritt „aus der Menge“. Bei einem war der Tritt geführt mit der Wucht eines Fußballers, beim anderen kam der Tritt seitlich wie bei einem Kickboxer.
Eine Merkwürdigkeit der besonderen Art war der Auftritt einer aus der Türkei stammenden Kriminalbeamtin, die angeblich so gut des Türkischen mächtig war, dass sowohl alle Aussagen auf der Demo als auch die auf der seltsamen Fan-Seite von ihr im Auftrag der Behörden übersetzt worden waren. Bei einigen kleinen Rückfragen und Zitaten durch Cetin zeigte sich jedoch schnell, dass sie Textfeinheiten nicht verstanden und teilweise direkt falsch übersetzt hatte. Einen amtlichen Dolmetscher hatte man nicht hinzu gezogen!
Der Gruppenführer wiederum hatte – im Nachhinein – sogar angemerkt, wenn er gewusst hätte, dass es sich um einen Stadtrat handelte, wäre man sicher anders vorgegangen – also ein Zweiklassen-Vorgehen bei der Polizei?
Diesen Widersprüchen mochte sich auch der Staatsanwalt nicht im Detail stellen. Er plädierte einzig mit dem Argument, es sei doch höchst unwahrscheinlich, dass sich all diese Polizeibeamten ein quasi abgesprochenes Lügengebilde aufgebaut hätten, wohl wissend, dass auch uneidliche Falschaussagen zum Verlust von Job und Pensionsanspruch führen könnten! Er forderte daher für beide Beklagte jeweils mehrere Tagessätze Strafe.
Dem allerdings hielt Rechtsanwalt Wächtler die Befunde aus dem Buch eines Ex-Polizisten und späteren Sozialwissenschaftlers „Die Krieger-Mentalität“ entgegen: man stünde „Seit an Seit, im Angesicht des Feindes“, das führe eben tatsächlich zu der beschriebenen kollektiven Mentalität, was die beschriebene Widersprüchlichkeit der Aussagen beim Versuch den Kollegen und Kumpel zu schützen, erklärbar mache.
Der Summe dieser Peinlichkeiten konnte sich nun auch der Richter nicht entziehen. Sein Urteil formulierte er wohl schon während der letzten Sätze der Plädoyers: Freispruch für die beiden Beklagten in beiden Anklagepunkten, die Kosten trägt die Staatskasse.
Nervenzehrende Wochen gingen damit zu Ende, neben der durchaus realsatirischen Seite darf jedoch nicht vergessen werden, dass zumindest die Bayerischen Behörden in Form von Polizei und Staatsanwalt völlig unnachgiebig die demokratischen kurdischen Kräfte im Visier haben und das ganze Vorgehen durchaus den Charakter eines Warnschusses haben könnte.
Jürgen Lohmüller